Für „Altverträge“: Zivilrechtliches Leistungsverweigerungsrecht für Verbraucher und Kleinstunternehmer
Nahezu alle Unternehmen haben in den vergangenen Wochen den Begriff der „höheren Gewalt“ hoch- und runterdekliniert. Hier ging und geht es vor allem um die praktisch immens wichtige Frage, ob Leistungspflichten während der fortlaufenden Krise erfüllt werden müssen oder ob ansonsten Schadensersatzansprüche drohen. Der Bundestag hat nun im Hau-Ruck-Verfahren eine Gesetzesänderung auf den Weg gebracht, die ein temporäres Moratorium für das Zivilrecht vorsieht.
I. Was ist der Sinn und Zweck des Moratoriums
Kernelement ist ein temporäres Leistungsverweigerungsrecht für Verbraucher und sog. Kleinstunternehmer. Laut Gesetzesbegründung soll damit Verbrauchern geholfen werden, deren Haushaltseinkommen wegen der Pandemie einstweilen oder dauerhaft verringert oder weggebrochen ist. Es soll auch Kleinstunternehmen geholfen werden, die ihre Leistungsverpflichtung nicht erfüllen können, weil sie nicht etwa in Kontakt mit dem Leistungsempfänger treten können, weil ihre Arbeitskräfte nicht zur Arbeit erscheinen können oder dürfen oder weil ihre Leistungserbringung einstweilen untersagt worden ist.
II. Wer gilt als „Kleinstunternehmer“?
Kleinstunternehmen sind Unternehmen mit bis zu 9 Beschäftigten und einem Jahresumsatz von bis zu 2 Mio. EUR.
III. Welche Verträge sind betroffen?
Die Neuregelung gilt für alle wesentlichen Dauerschuldverhältnisse. Das sind solche, die zur Eindeckung mit Leistungen der angemessenen Daseinsvorsorge erforderlich sind (Pflicht-versicherungen, Verträge über die Lieferung von Strom und Gas oder über Telekommuni-kationsdienste, soweit zivilrechtlich geregelt auch Verträge über die Wasserversorgung und -entsorgung). Ausgenommen sind Pauschalreiseverträge, Mietverträge sowie Darlehnsverträge. Für diese Verträge gibt es (bereits) Sonderregelungen.
IV. Wie lautet der Stichtag?
Von dem Moratorium sind alle Verträge betroffen, die vor dem 08.03.2020 geschlossen wurden. Der Gesetzgeber geht davon aus, dass die Risiken einer weitreichenden Pandemie den Vertragsparteien ab diesem Zeitpunkt bewusst gewesen sein müssen. Es kommt ausschließlich auf den Zeitpunkt des Vertragsschlusses an, nicht darauf, ob der Vertrag zwischenzeitlich in Gang gesetzt wurde oder nicht. Für die Praxis interessant ist die Detailfrage, wie Verträge zu behandeln sind, bei denen das verbindliche Angebot vor dem 08.03.2020 an die Vertragsgegenseite übermittelt wurde und erst nach dem 08.03.2020 angenommen wurde. Wie solche Fälle zu behandeln sind, in denen zumindest ein Vertragspartner die Risiken einer Pandemie noch nicht absehen konnte, sagt der Gesetzesentwurf nicht.
V. Wie lange soll das Moratorium andauern?
Zunächst bis zum 30.06.2020.
VI. Wie sind Rahmenverträge zu behandeln?
Beim typischen Rahmenvertrag kommt für jedes einzelne Geschäft ein gesonderter Vertrag zu Stande, sodass vieles dafür spricht, auch im Bereich der Leistungsverweigerung den jeweiligen Einzelvertrag und nicht den Rahmenvertrag zugrunde zu legen. Anders liegt die Sache, wenn die Erfüllung eines bereits geschlossenen Vertrages nur zeitverzögert bzw. gestreckt erfolgt oder der Rahmenvertrag feste Lieferquoten oder Mindestliefermengen enthält. Dann wäre auf den ursprünglichen Vertrag abzustellen.
VII. Leistungsverweigerungsrecht für Verbraucher
Das Leistungsverweigerungsrecht für Verbraucher wird sich regelmäßig auf die Geldforderung beziehen. Notwendig ist, dass dem Verbraucher infolge von Umständen, die auf die Ausbreitung der Virusinfektionen zurückzuführen sind, die Erbringung der Leistung ohne Gefährdung seines angemessenen Lebensunterhalts (oder des angemessenen Lebensunterhalts seiner unterhaltsberechtigten Angehörigen) nicht möglich wäre. In der Praxis wird sich zwangsläufig die Frage stellen, ob ein Unvermögen tatsächlich auf die Folgen des Corona Virus zurückzuführen ist. Ferner ist schon jetzt abzusehen, dass es erheblichen Streit darüber geben wird, was als angemessener Lebensunterhalt anzusehen ist. Die Gesetzesbegründung liefert dazu keine belastbaren Aussagen.
VIII. Leistungsverweigerungsrecht für Kleinstunternehmer
Das Leistungsverweigerungsrecht für Kleinstunternehmer kann sich regelmäßig auch auf die Erbringung der Sachleistung beziehen. Ein Leistungsverweigerungsrecht besteht, wenn infolge von Umständen, die auf die COVID-19-Pandemie zurückzuführen sind, das Unternehmen die Leistung nicht erbringen kann oder dem Unternehmen die Erbringung der Leistung ohne Gefährdung der wirtschaftlichen Grundlagen seines Erwerbsbetriebs nicht möglich wäre. Auch hier wird sich in der Praxis zwangsläufig die Frage stellen, ob ein Unvermögen tatsächlich auf die Folgen die Ausbreitung des Virus zurückzuführen ist. Auch wird es erheblichen Streit darüber geben, wann eine Gefährdung der wirtschaftlichen Grundlagen eines Erwerbsbetriebs vorliegt.
IX. Wie wird das Leistungsverweigerungsrecht geltend gemacht?
Das Leistungsverweigerungsrecht tritt wie der Name schon sagt, nicht automatisch ein. Es ist ein Recht, das der Schuldner gegenüber dem Gläubiger geltend machen kann, aber nicht muss. Der Schuldner ist dabei gut beraten, die Voraussetzungen des Leistungsverweigerungsrechts sorgsam zu prüfen, da er ansonsten Gefahr läuft, Schadensersatzansprüche oder sonstige negative Rechtsfolgen (Kündigung) zu riskieren. Es obliegt dem Schuldner, sowohl die wirtschaftliche Gefährdung als auch den Zusammenhang zur COVID-19-Pandemie zu beweisen.
X. Wann ist ein Leistungsverweigerungsrecht eines Verbrauchers ausgeschlossen?
Das Leistungsverweigerungsrecht eines Verbrauchers ist ausgeschlossen, wenn seine Ausübung für den Gläubiger seinerseits unzumutbar ist, da die Nichterbringung der Leistung die wirtschaftliche Grundlage seines Gewerbebetriebs gefährden würde.
XI. Wann ist ein Leistungsverweigerungsrecht eines Kleinstunternehmers ausgeschlossen?
Das Leistungsverweigerungsrecht eines Kleinstunternehmers ist ausgeschlossen, wenn die Ausübung des Leistungsverweigerungsrechts für den Gläubiger unzumutbar ist, da die Nichterbringung der Leistung zu einer Gefährdung seines angemessenen Lebensunterhalts oder des angemessenen Lebensunterhalts seiner unterhaltsberechtigten Angehörigen oder der wirtschaftlichen Grundlagen seines Gewerbebetriebs führen würde.
XII. Wer kann wann kündigen?
Wenn das Leistungsverweigerungsrecht wegen Unzumutbarkeit für den Gläubiger ausnahmsweise ausgeschlossen ist, steht dem Schuldner (Verbraucher oder Kleinstunternehmer) das Recht zur Kündigung zu. Zur praxisrelevanten Frage, ob Unternehmen aus dem Bereich der Daseinsvorsorge Verträge mit Endkunden ohne weiteres kündigen können, sagt der Gesetzesentwurf allerdings nichts.
XIII. Müssen sich die Vertragsparteien nun auf eine unsichere Abwägung einstellen?
Wenn man das Gesetz ernst nimmt: Ja. Ein Schuldner, der das Leistungsverweigerungsrecht tatsächlich ausüben will, muss sich bei der Kausalität und seiner eigenen wirtschaftlichen Situation sicher sein. Er geht sonst erhebliche Risiken ein. Auch ein Gläubiger, der sich auf die Unzumutbarkeit berufen will, geht das Risiko ein, dass ein Gericht dies später anders beurteilen wird und er dann Schadensersatzansprüche erfüllen muss. Vor allem im B2B Bereich kann Unternehmen daher nur geraten werden, eine einvernehmliche Lösung über ein zeitweiliges Leistungsverweigerungsrecht zu treffen. Wichtig: Solche Vereinbarungen dürfen nicht zum Nachteil des Schuldners vom Gesetz abweichen!
XIV. Praxisfolgen:
- Gläubiger werden sich darauf einstellen müssen, dass Schuldner sich auf das temporäre Leistungsverweigerungsrecht berufen, um sich zeitweise finanzielle Beinfreiheit zu verschaffen. Für Gläubiger gilt es, die Ausübung im Einzelfall auf Glaubhaftigkeit zu prüfen und von dem Schuldner im Zweifelsfall Detailangaben abzuverlangen. Im Massengeschäft wird es regelmäßig nicht möglich sein, jeden Einzelfall im Detail zu prüfen. Hier sind Gläubiger gut beraten, eine interne Handlungsanweisung zu formulieren.
Gegenüber wichtigen Kunden oder in besonderen Einzelfällen sollten Gläubiger Einzelvereinbarungen mit Schuldnern treffen. Wichtig: Solche Vereinbarungen dürfen nicht zum Nachteil des Schluderns vom Gesetz abweichen!
Geraten Gläubiger ihrerseits in Schieflage, müssen sie unverzüglich prüfen, ob die Möglichkeit besteht, die Leistungsverweigerungsrechte zurückzuweisen und Verträge zu kündigen. - Schuldner und insbesondere Kleinstunternehmer sind gut beraten, die Voraussetzungen eines Leistungsverweigerungsrechts sorgsam zu prüfen.
Gegenüber wichtigen Gläubigern oder in besonderen Einzelfällen sollten Schuldner darauf drängen, eine Einzelvereinbarung mit Gläubigern zu treffen. Wichtig: Solche Vereinbarungen dürfen nicht zum Nachteil des Schluderns vom Gesetz abweichen!