Beeinträchtigung von Lieferketten; Force Majeure- und Höhere Gewalt-Klauseln
Die schnelle Ausbreitung des Corona-Virus von der mittelchinesischen Unterprovinzstadt Wuhan in nahezu sämtliche westlichen Industrieländer ist auch unmittelbare Folge der arbeitsteiligen und globalisierten Weltwirtschaft. Nicht nur in der Automobilindustrie finden sich heute ausdifferenzierte und lange Lieferketten. Deutsche Hersteller und Lieferanten beziehen Rohstoffe und Einzelkomponenten häufig von ausländischen Lieferanten. China ist dabei seit Jahren von stetig wachsender Bedeutung. Im Jahr 2018 beispielsweise wurden Waren im Wert von rund 106,06 Milliarden Euro aus China nach Deutschland importiert, meist auch zum Zwecke der Weiterverarbeitung.
Zur Eindämmung der Epidemie hat die chinesische Zentralregierung in den vergangenen Wochen teilweise sehr drastische Maßnahmen ergriffen: Ganze Städte wurden abgeriegelt, der innerchinesische Verkehr empfindlich eingeschränkt und viele Betriebe durch staatliche Verfügung stillgelegt. Die unmittelbaren wirtschaftlichen Folgen sind bislang in Europa erst ansatzweise zu spüren. Die meisten Waren gelangen auf dem Seeweg hierher. Ein Seecontainer kann für die Reise aus China nach Europa bis zu acht Wochen benötigen. Waren, die heute in die europäischen Häfen einlaufen, gingen in der Regel noch vor Ausbruch des Coronavirus auf die Reise. Es ist deshalb damit zu rechnen, dass sich die Versorgungslage mit Gütern aus China in den nächsten Wochen deutlich zuspitzt.
Angesichts häufig geringer Lagerbestände ist deshalb die laufende Produktion bei vielen deutschen Unternehmen gefährdet. Alternative Bezugsquellen existieren meist nicht oder können nicht innerhalb kurzer Zeit aufgebaut werden. Selbst wenn es nicht zu einem großflächigen Ausbruch der Krankheit in Deutschland und Europa kommen sollte, ist damit zu rechnen, dass viele inländische Unternehmen auf absehbare Zeit selbst in Lieferschwierigkeiten geraten, da ihnen die benötigten Rohstoffe oder Zulieferteile fehlen.
Gegenüber ihren Kunden sehen sich inländische Unternehmen je nach Vertragslage dann häufig Schadensersatzansprüchen oder Vertragsstrafen ausgesetzt, da Lieferungen nicht wie zugesagt erfolgen können. Ob solche Ansprüche berechtigt sind oder eine Verteidigung Erfolg verspricht, ist wie immer Frage des Einzelfalls. Entscheidend sind dabei grundsätzlich die konkrete Vertragssituation und die jeweils von den Vertragspartnern übernommenen Risiken. Hat ein Güterhändler beispielsweise vertraglich das gesamte Beschaffungsrisiko übernommen und bestimmte Mengen- oder Liefergarantien gegenüber seinen Käufern abgegeben, besteht ein gewichtiges Risiko, dass sich die Käufer hierauf auch in der aktuellen Situation berufen und mit entsprechenden Ersatzansprüchen erfolgreich sein können.
Viele Verträge – vor allem mit internationalen Bezügen – enthalten in dem Zusammenhang sogenannte Force Majeure oder Höhere Gewalt Klauseln. Solche Klauseln entbinden die Vertragsparteien für die Dauer der Störung und im Umfang ihrer Auswirkungen von ihren jeweiligen Liefer- und Abnahmeverpflichtungen. Es stellt sich deshalb die Frage, ob und in welchem Umfang eine solche Force Majeure Klausel wegen der aktuellen Corona-Krise greift. Dies erfordert grundsätzlich eine rechtliche Analyse der gesamten Geschäftsbeziehung. Dabei ist zu beachten, dass das deutsche Gesetzesrecht das Institut der Force Majeure bzw. Höheren Gewalt an sich nicht kennt. Deutsche Gerichte ziehen deshalb zur Auslegung entsprechender Klauseln häufig das UN-Kaufrecht (CISG) heran. Nach Art. 79 CISG soll Höhere Gewalt grundsätzlich dann vorliegen, wenn das Ereignis nicht beherrschbar, unvorhersehbar, unabwendbar und ursächlich für das Leistungshindernis war.
Schwierigkeiten bereitet die Frage, wann ein solches Leistungshindernis im Einzelfall unabwendbar ist. Hier stellen deutsche Gerichte regelmäßig hohe Anforderungen auf: Einem Schuldner ist die Überwindung eines Hindernisses zur Einhaltung seiner (Liefer-) Pflichten meist dann noch zuzumuten, wenn hierdurch erhebliche Mehraufwendungen anfallen. So hat er z.B. alternative Beförderungsmöglichkeiten in Betracht zu ziehen, selbst wenn dies mit empfindlichen Mehrkosten verbunden sind. Auch kann er gehalten sein, die Ausgangsware oder Rohstoffe zu einem deutlich höheren Preis zu erwerben. Welche Anstrengungen im Einzelfall zumutbar sind, um das Leistungshindernis oder dessen Folgen zu überwinden, wird von den Gerichten letztlich anhand einer Risikoabwägung durch Auslegung bestimmt.
Ein selbst in Lieferschwierigkeiten geratenes deutsches Unternehmen wird deshalb meist darlegen müssen, dass die nicht mehr vorhandenen Rohstoffe oder Zulieferteile in der relevanten Zeit entweder überhaupt nicht oder nur zu einem unzumutbaren Preis verfügbar waren. Die Erfüllung der eigenen Lieferpflichten muss für das Unternehmen also entweder absolut unmöglich oder wirtschaftlich untragbar sein, wobei letzteres wieder eine durch Gerichte zu beantwortende Wertungsfrage ist. In diesem Zusammenhang sind auch hoheitliche Maßnahmen in die Risikoabwägung einzubeziehen. Werden beispielsweise Unternehmen durch staatliche Anordnung geschlossen oder der Warenverkehr eingeschränkt, spricht dies im Rahmen der Gesamtabwägung eher für einen Fall von Force Majeure.
Empfehlenswert ist es deshalb, über den chinesischen Geschäftspartner entsprechende Bescheinigungen der chinesischen Behörden zu den getroffenen Maßnahmen einzuholen. So stellt beispielsweise das China Council for the Promotion of International Trade (CCPIT) explizite Force-Majeure-Bescheinigungen für chinesische Exportbetriebe aus. Solche chinesischen Dokumente entfalten zwar keine unmittelbare Bindungswirkung in Deutschland, helfen aber bei der Begründung von Force Majeure und können in einem möglichen Rechtsstreit eine wertvolle Argumentationshilfe bei der Überzeugung des Gerichts darstellen.
Liegen solche (extremen) Umstände tatsächlich vor, kann aber häufig schon das deutsche Gesetzesrecht Abhilfe leisten. Entweder hat man es dann mit einem Fall der Unmöglichkeit gemäß § 275 BGB zu tun, wodurch ein Schuldner ohnehin von seiner Leistungspflicht – jedenfalls vorübergehend – befreit wäre. Oder es kann möglicherweise gemäß § 313 BGB Anpassung des Vertrages an die unvorhergesehenen und veränderten Umstände verlangt werden, weil ein Festhalten am Vertrag untragbar geworden ist und zu einem mit Recht und Gerechtigkeit nicht mehr zu vereinbarenden Ergebnis führen würde. Ist eine solche Vertragsanpassung nicht möglich, bestünde außerdem ein gesetzliches Sonderkündigungsrecht.
Soweit konkrete Vertragsstrafen oder verschuldensunabhängige Liefergarantien nicht im Raum stehen, kann sich gegen Schadensersatzansprüche nach deutschem Recht in der Regel gut verteidigt werden, wenn alles Erforderliche getan wurde, um die eigene Lieferfähigkeit sicherzustellen. Existieren aber beispielsweise keine alternativen Lieferquellen und kann der eigene Lieferant entweder aufgrund hoheitlicher Maßnahmen oder rein faktisch wegen Krankheit nicht mehr liefern, hat man den eigenen Lieferverzug in der Regel nicht verschuldet. Schadensersatzansprüche scheiden nach deutschem Recht dann grundsätzlich aus.
Wichtig ist allerdings in jedem Fall, die eigenen Kunden so früh wie möglich über drohende Lieferengpässe zu informieren, damit sich diese gegebenenfalls rechtzeitig hierauf einstellen können. Eine verspätete Information kann für sich genommen schon Schadensersatzansprüche begründen, wenn nicht hinreichend auf die Interessen der Vertragspartner Rücksicht genommen wurde.
Darüber hinaus bietet der frühe und offene Umgang mit der aktuellen Situation häufig die Möglichkeit zur einvernehmlichen Regelung der Angelegenheit. Eine solche Lösung sollte dann aber nicht wie so häufig nur am Telefon besprochen, sondern mindestens auch im Anschluss per E-Mail noch einmal festgehalten werden.